Unterwegs zu Gaby Glückselig
Buchvorstellung derStandard.at
Schuld in der Familie: Eine Enkelin eines NS-Täters trifft Überlebende VANESSA GAIGG 12. April 2018,
Patricia Paweletz' Großvater war Teil der Waffen-SS. In "Unterwegs zu Gaby Glückselig" erzählt sie von ihrem Besuch bei Shoah-Überlebenden
Wien/Hamburg – "Sieh dir an, was wir gemacht haben", sagte die Mutter von Patricia Paweletz zu ihr und dem Bruder, nachdem sie die Kinder mitten in der Nacht geweckt hatte.
Sie deutete auf den Fernseher, wo eine Dokumentation über NS-Verbrechen lief. Dort war zu sehen, wie Menschen aus Viehtransportwägen gezerrt und in Gaskammern gedrängt wurden. Leichenberge und Massengräber wurden gezeigt. Es war einer der wenigen Momente in der Kindheit, an den Paweletz sich erinnern kann, als NS-Verbrechen in Zusammenhang mit der eigenen Familie thematisiert wurden.
Bei der gebürtigen Deutschen entwickelte sich eine Belastung, die vom Wissen her rührte, welche Verbrechen die Deutschen begangen haben. Und gleichzeitig ein großes Interesse an Themen rund um den Holocaust. Vor zehn Jahren hat Paweletz nach eigenständigen Recherchen schließlich herausgefunden, dass ihr Großvater Mitglied der Waffen-SS war. Auch zwei ihrer Onkel waren Teil der SS.
Reise zum Emigranten-Stammtisch
Das beschreibt Paweletz in ihrem kürzlich erschienenen Buch Unterwegs zu Gaby Glückselig. Auf den Spuren vom Damals im Heute (Punktum-Bücher). Die Autorin beschritt einen für ihre Generation (Jahrgang 1969) unüblichen Weg: Als Enkelin eines Mannes, der auf der Täterseite stand, suchte sie aktiv Kontakt zu jüdischen Überlebenden. Die Hamburgerin reiste nach New York, um den Stammtisch von Gaby Glückselig zu besuchen. Glückselig, die mittlerweile verstarb, richtete viele Jahre ein berühmtes Treffen für in den USA lebende Emigranten aus, die sie jeden Mittwoch in ihre Wohnung an Manhattans Upper East Side einlud. Die Treffen bildeten die Fortsetzung eines Stammtisches, der bereits in den 1940er-Jahren vom bayrischen Schriftsteller Oskar Maria Graf ins Leben gerufen wurde. Die besprochenen Themen waren vielfältig; sie reichten von Politik über Kultur bis zu Erfahrungen aus dem Krieg. Die meisten Gäste waren im Zweiten Weltkrieg vor den Nazis geflohen, viele kommen auch heute noch zusammen.
Auch für viele junge Österreicher, die in New York im Rahmen von "Gedenkdienst" ihren Zivildienst leisteten, war Glückseligs Wohnung eine bekannte Adresse.
Sprachlosigkeit der Täter
Als Paweletz geboren wurde, war der Krieg seit 24 Jahren vorbei. "Ich habe davon nur die Nachwirkungen gespürt", sagt sie im Gespräch mit dem STANDARD. Aber auch, wenn sie selbst die Nazizeit nicht aktiv miterlebte, habe diese trotzdem Auswirkungen gehabt, meint die Autorin. Es gehe um weitervererbte Traumata durch die Eltern und Großeltern und um das Wissen, dass Mitglieder der eigenen Familie in Verbrechen verwickelt waren. Mit den Traumata, die Opfer oder deren Nachfahren aufgrund der Nazi-Verbrechen erfuhren, will Paweletz diese Dynamik nicht vergleichen: "Das Erlittene, das nicht in Worte zu fassen ist, wirkt sich anders auf Nachfahren der Opfer aus als das Verschweigen aktiver Verbrechen, die jemand aus der Familie begangen hat", sagt Paweletz.
Auf der Opferseite existiere hingegen ein Leid, das auch teilweise mit dem Schuldgefühl, überlebt zu haben, zusammenhänge. Aber der Vorgang des Weitertragens sei ähnlich. Eine Last werde jedenfalls auch in Täterfamilien weitervererbt, meint Paweletz: In vielen Familien herrsche Sprachlosigkeit, die mit Tabuisierung einhergehe. Die Verarbeitung des Leids der Holocaust-Opfer und ihrer Nachkommen soll und kann durch die Beschäftigung mit der Weitervererbung von Traumata in den Täterfamilien keinesfalls ersetzt werden, sagt Paweletz: "Es geht nicht darum, sich selber zum Opfer zu machen."
Antisemitismus auf dem Vormarsch
Genauso wenig soll die persönliche Belastung in den Vordergrund gestellt werden. Vielmehr gehe es darum, sich damit auseinanderzusetzen, was das eigene Land und die eigene Familie für eine Geschichte haben, um mit der Verschwiegenheit brechen zu können. "Für viele Opfer und deren Nachkommen ist es wichtig, dass die Nachkommen der Täterseite klar Stellung beziehen", meint Paweletz. Bei ihrem Vorhaben, jüdische Überlebende zu treffen, ist sie nicht auf Ablehnung gestoßen, berichtet die Autorin.
Mit ihrem Versuch des Austausches und den festgehaltenen Erfahrungen will Paweletz einen Beitrag zur Geschichtsvermittlung leisten. Antisemitismus sei wieder auf dem Vormarsch in Europa: "Wir müssen uns damit auseinandersetzen", fordert die Autorin. Für die Vermittlung müsse man neue Formen finden, da es bald nicht mehr möglich sein wird, mit Zeitzeugen zu sprechen. "In Deutschland treffe ich niemanden, der nichts mit dem Thema zu tun hat", sagt Paweletz. Spuren der NS-Zeit seien bis heute zu finden. "Es war und ist niemand neutral." (Vanessa Gaigg, 12.4.2018)